Ich gestehe es: Bis letzte Woche wusste ich nicht mal, wer Marlene Lufen ist. Als ich sah, dass die von mir wegen ihrer Geradlinigkeit sehr geschätzte Dunja Hayali mit ihr über ein „emotionales Video zum Thema Lockdown“ diskutiert und dies alle und ihren Bruder in meinen sozialen Netzwerken zur Stellungnahme veranlasste, habe ich mich informiert.
Jetzt weiß ich, Frau Lufen ist eine durch Vorerfahrungen etwa als Moderatorin des Sat.1-Frühstücksfernsehens und von Promi Big Brother für die Kommentierung und Einordnung medizinischer, (ordnungs-)politischer und sozialpsychologischer Themen der Gegenwart bestens vorbereitete Top-Fernsehjournalistin. In ihrem umstrittenen Video sagt sie zur aktuellen Lockdown-Situation Sätze wie „Immer, wenn jemand erklärt, wir müssen die Zähne zusammenbeißen, hat eine Frau die Faust im Gesicht oder ein junger Mensch springt von der Brücke“ und spricht von ihrem Gefühl, in einigen Jahren mit Reue auf diese Zeit zurückzuschauen und „zu denken, wir haben es falsch gemacht, dass dieser Lockdown das Falscheste ist, was wir hätten machen können.“ Prompt nutzte die rechtsextreme sog. Alternative für Deutschland das Video denn auch zur Bewerbung der eigenen wirren Corona-„Gedanken“.
Milde entsetzt nahm ich wahr, dass die Frau heute Abend bei ihrem Heimatsender zur Primetime eine eigene Sendung bekam: den Live-Talk Marlene Lufen: Deutschland im Lockdown, in dem die Moderatorin laut Nachrichtenmagazin Gala „mit vier Gästen die brennendsten Fragen zu klären und die größten Sorgen anzusprechen versucht.“ Die WELT kündigte gar an, Marlene Lufen werde sich „nach emotionalem Video zum Lockdown der Kritik stellen“.
War aber gelogen. Statt dessen erzählte sie sich mit Kinderärztin Dr. Karella Easwaran, der „Mental-Health-Bloggerin“ Charis Krüger, Alexander Löher, Bezirksschülersprecher der Gymnasien in Oberbayern-West und Starkoch Tim Raue in launiger Runde abwechselnd, wie schlimm es uns doch allen im Lockdown geht. Herr Löher z. B. fürchtet um sein Abitur (genauer: um seine guten Noten, denn er will Pilot werden), aber nicht, weil der Digitalunterricht schlecht sei – nein, weil er sich im heimischen Umfeld, „wo alles rumsteht“, nicht zum Lernen motiviert kriegt. Außerdem fehlen ihm „die sozialen Kontakte“ – auf Nachfrage der Moderatorin, die kumpelhaft alle Anwesenden duzt (Schicksalsgemeinschaft und so) und ihm gegenüber die verständnisvolle Mama spielt, druckst er rum, und alle lachen ein bisschen hämisch, weil sie wissen, dass er Partys, Saufen und …. soziale Kontakte eben meint.
Zwischendurch dürfen sich noch Zuschauer:innen per soziale Medien beklagen, dass sie ihren 18. Geburtstag nicht mit der gebührenden Volldröhnung feiern konnten, weil Corona.
Damit wir uns nicht falsch verstehen – viele der Probleme, die Lufen anspricht, sind sehr real und beklagenswert. Zunehmende häusliche Gewalt, die Schließung von Betreuungseinrichtungen für die sozial Schwächsten, keine Therapiemöglichkeiten für psychisch Kranke – das ist nicht gut, das darf man nicht verharmlosen. Aber wie sähe denn die Alternative aus? An Corona einsam auf einer Intensivstation verrecken kommt mir jetzt auch nicht wie eine besonders anheimelnde Aussicht vor …
Ich weiß es nicht, und Marlene & the Mimimis interessiert es nicht. Die denken nicht über Konzepte nach, die jammern, zählen voll schlimme Fakten auf und hätten so gerne eine/n Schuldige/n, auf den sie sauer sein könnten. Weil sich aber ein Virus um unser völlig überzogenes Anspruchsdenken ebenso wenig schert wie um unsere echten Nöte, kriegen sie den nicht, finden halbherzig „die Verantwortlichen“ scheiße und jammern dann noch eine zweite Runde. Ich jedenfalls bin lieber downgelocked als tot, aber was weiß ich schon.
Richtig widerlich wird es dann, als Kinder befragt werden, die ihre Corona-Nöte direkt in die Kamera erzählen dürfen, mit großen Bambiaugen zu elegisch-emotionalisierender Klaviermusik.
Ganz ehrlich: Eine schlimmere Mischung aus Bauchgefühl, Unseriosität und Scheinheiligkeit habe ich lange nicht gesehen. Wer’s verpasst hat: Holt es nicht nach. Sie ist bestimmt nächste Woche bei Markus Lanz.