Ich habe die Zukunft des ARG gesehen, und sie hieß Arcana.
Arcana war ein Free-to-Play-ARG des Kreativteams All Of Those Witches [AOTW] (Tommy Honton, Eric Hoff, Eva Anderson, Mali Elfman und E3W Productions) aus dem Großraum Los Angeles, das von Mai bis Anfang Juni 2020 lief und mich damit zum einen zwang, meinen Lebensrhythmus auf US-Westküstenzeit umzustellen, mir zum anderen aber wunderbar durch die erste frustrierende Phase der Covid-19-Pandemie half. Neu daran war, dass Arcana von vornherein ganz offen als ARG samt Registrierungspage im Internet, auf der man seine Adresse hinterlassen musste und dafür von den Machern mit einem wöchentlichen Newsletter versorgt wurde, angekündigt wurde. Das fast gebetsmühlenartig wiederholte Mantra aus der ersten Welle dieser Spielform, This ist not a game, wurde damit ebenso bewusst außer Acht gelassen wie der zweite große ARG-Grundsatz Never mind the people behind the curtain, weil das Produktionsteam sich freimütig schon in der Aufforderung zum Mitspielen vorstellte. Ebenso neu war, dass von vornherein deutlich gemacht wurde, von wann bis wann genau das Spiel laufen würde und das jeweils in jeder Woche nur von Mittwoch bis Samstag Input von Seiten der Puppet Master zu erwarten war (was uns als Spieler:innen-Community nicht daran hinderte, auch in den verbleibenden Tagen weiter zu spielen und zu rätseln, zumal klugerweise jede „Inputphase“ mit einem Cliffhanger und zumindest eine mehr oder weniger schwierigen Rätsel endete).
In erster Linie durch Instagram-Posts, aber auch durch die Messenger-Funktion von Instagram, Mails, Videos, Audiodateien und sogar nicht-fiktionale Elemente bot Arcana den Teilnehmer:innen ein mysteriöses Horror-Szenario, das sich um den fiktiven Charakter Jade und ihren Kampf mit einer dämonischen Präsenz drehte, die sie als ihr nächstes Gefäß auserkoren hatte. Die Spieler:innen hatten die Aufgabe, Jade (dargestellt von der aus Mexiko stammenden Schauspielerin Nerea Duhart) zu helfen, die Geschehnisse, in die die junge Frau verwickelt wurde, zu ergründen, indem sie Hinweise fanden, die in den verschiedenen Beiträgen versteckt waren oder aus realen Geschichten und den Mythen der Welt abgeleitet wurden, was in einer Entscheidung gipfelte, die die Teilnehmer:innen gemeinsam durch Videobeiträge treffen mussten, um Jades endgültiges Schicksal zu bestimmen.
„Arcana“ evoziert natürlich sofort die Assoziation Tarot, und das gleichnamige ARG bediente sich dieser weidlich. Aber die umfassenderen Themen der Geschichte waren um Schuld, Isolation, Okkultismus, Geheimnisse, Verrat und Mord.
Vor allem Mord und Mörder spielten in Arcana an mehreren Stellen eine ztentrale Rolle. Reale Serienmörder des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, insbesondere William Edward Hickman, waren ein wichtiger Bestandteil des Erzählkosmos von Arcana und des zentralen Antagonisten. Dieser Gegenspieler, mit dem wir es zu tun bekamen, Providence, war eine im Laufe der Jahrhunderte immer wieder den Wirt wechselnde Entität. Zwar mussten wir nur über Hickman wirklich mehr herausfinden, um die Geschichte voranzutreiben, doch wiesen uns Easter Eggs – die es z. B. durch Umwandlung von akustischen in grafische Signale mittels Apps aufzudecken galt – noch auf weitere ehemalige Wirte des Dämons hin. Natürlich waren Providences Endziel weitere Morde, die wir als Teilnehmer:innen zu verhindern versuchten.
Bei diesem Versuch stießen wir bald auf Jades Zwillingsschwester Robin (ebenfalls verkörpert von Nerea Duhart). Beide Frauen lernten wir als sympathische, nachvollziehbare Charaktere kennen, doch ohne zu viel zu verraten kann ich sagen, dass wir bei beiden jungen Damen den einen oder anderen Face Turn zu verkraften hatten. Ein weiterer Charakter, der Dämonologe Gareth Fitzpatrick (gespielt von Eric Hoff, Creative Director der Thinkwell Group), hatte ein eigenes dunkles Geheimnis, das als Quell der Spannung zwischen ihm und Hadley Meares diente, einer realen True-Crime-Journalistin aus L. A., die ihren eigenen Blog und ihre Expertise dem ARG zur Verfügung stellte.
Um mehr über Providence und seine Achilles-Fersen zu erfahren, waren wir gezwungen, uns unter Anleitung Fitzpatricks selbst als Amateur-Dämonolog:innen zu betätigen und uns mit Geistern des Mordens und des Tötens aus verschiedenen religiösen und kulturellen Traditionen zu befassen. Beispielsweise mussten wir aus zahlreichen Hinweisen Zaubersprüche zusammenpuzzeln, die dem wachsenden Einfluss Providences auf Jade entgegenwirken sollten.
Ein Faktor, der unsere Bemühungen, Jade zu helfen, massiv erschwerte, war der geschickte Einsatz der Technik des unzuverlässigen Erzählers (respektive hier der unzuverlässigen Erzählerin/nen). Sowohl Jade als auch Robin logen, was ihre Vergangenheit betraf – mit katastrophalen Folgen. Dadurch und durch Providences Tricks getäuscht trieben wir Spieler:innen Jade unwissentlich, aber unaufhaltsam einem schlimmen Ende entgegen. Jades Geisteszustand verschlechterte sich zusehends, und Providence stand kurz davor, seine mörderischen Ziele zu erreichen. Im letzten Augenblick bekamen wir angesichts der oben schon erwähnten Abstimmung über die weitere Vorgehensweise in Sachen Jade die Möglichkeit, begangene Fehler mit Hilfe Gareths, Hadleys und Robins zu korrigieren.
Alle NSC in Arcana waren fantastisch. Vor allem Nerea füllte ihre Doppelrolle überzeugend mit Leben. Jade und Robin hatten jeweils ausgeprägte, überzeugende Persönlichkeiten, und Duhart war nach Jades Besessenheit wirklich schreckenerregend. Erics Darstellung des Dämonologen machte Gareth zum dringend benötigten Comic Relief in dem doch eher bedrückenden Szenario. Hinter den Kulissen schrieb das gesamte Team in allen Rollen mit uns Teilnehmer:innen und schaffte es auf bemerkenswerte Weise, die Stimmen der einzelnen Charaktere durchzuhalten, ohne dass auffiel, dass an der Tastatur unterschiedliche reale Persönlichkeiten saßen.
Vom technischen Standpunkt aus betrachtet war Arcana nahezu perfekt. Die Video- und Audioelemente waren für eine kostenlose Experience überdurchschnittlich, insbesondere das Sounddesign war erstklassig. Dazu kam die liebevolle Gestaltung von Jades und Robins Haus, der primären Kulisse des Spiels, und die zahllosen Kunstwerke Jades und andere Requisiten, die im Anschluss an das ARG versteigert wurden, um die Kostendeckung zu halten (die übergroße Tarotkarte mit dem Rotkehlchen, sozusagen das Titelbild des Spiels, die ihr oben seht, hängt seither bei mir an der Wand). Die Rätsel waren sehr divers gehalten, einfallsreich und erforderten eine Mischung aus verschiedenen Skills und Methoden, von Sprachwitz bis zu Computerfertigkeiten. Einige waren kryptographischer Natur, bei anderen ging es um versteckte optische Hinweise, und wieder andere erforderten Google-Fu, um mit realen Informationen Rätsel in der Spielwelt zu knacken.
Fazit: Arcana war ein rundum überdurchschnittliches, rätsellastiges, komplexes Horror-ARG, das durch Design-Entscheidungen bewusst mit überkommenen Traditionen gebrochen und es so möglicherweise geschafft hat, die immersivste mir bekannte Spielform neben LARP ins 21. Jahrhundert zu retten.
Wenn ihr euch mehr anschauen möchtet:
Jades Instagram-Account: https://www.instagram.com/jadesintown/
Hier der ihrer Zwillingsschwester: https://www.instagram.com/graybabybird/
Der hier gehört Providence: https://www.instagram.com/veryslyuno/
Als Jade besessen war, entstand ein neuer Account von ihr: https://www.instagram.com/towninjades/
Das ist der real existierende True Crime Blog Hadley Meares: https://www.meareshadley.com/
Last, but not least die HP des erfundenen Dämonologen: https://www.garethfitzpatrick.com/